SYLLABUS
6. Das Zusammenspiel von Reproduktionstechnologien und sozialen Transformationen
(Basis)
Technologische Veränderungen und gesellschaftliche Transformationen sind in der Regel tief miteinander verknüpft und beeinflussen sich gegenseitig auf viele komplexe Weisen. Zum einen treiben technologische Fortschritte oft Veränderungen in sozialen Verhaltensweisen und Normen an, wie wir es z.B. bei Smartphones sehen, die Kommunikationsmuster und soziale Interaktionen prägen. Zum anderen treiben gesellschaftliche Bedürfnisse und Anforderungen technologische Innovationen voran, da Erfindungen entstehen, um gesellschaftliche Herausforderungen zu bewältigen oder sich wandelnden Präferenzen gerecht zu werden.
Ähnlich hängt die Entwicklung von ART (Assisted Reproductive Technologies) von gesellschaftlichen Bedürfnissen und Erkenntnissen ab und prägt diese ebenso. Wie Franklin (2013) formulierte: „Während wir das fünfte Jahrzehnt der menschlichen IVF betreten, präsentiert diese Technik ein Paradoxon. Einerseits ist die IVF alltäglicher und regulärer geworden, ja sogar eine neue Norm des sozialen Lebens. Andererseits ist sie, wie Alice sagen würde, immer wunderlicher geworden durch die Entwicklung ihrer Anwendungen.“
Im Folgenden wird die Frage aufgeworfen, wie reproduktive Technologien
a) unsere Wahrnehmungen von Befruchtung, menschlicher Existenz, Körper- und Zeitwahrnehmung und unser Verhältnis zur Schöpfung überschreiben (Themen 1-2); b) mit den zunehmend vorherrschenden Genderfragen, sich verändernden individuellen Lebenswegen und der multikulturellen Gesellschaft übereinstimmen (Themen 3-5).
Folien 2-6: Wie werfen reproduktive technologische Veränderungen immer wieder unerwartete Fragen auf?
Die assistierte Reproduktion hat bedeutende Meilensteine erreicht. Die Grundlage wurde in den 1950er Jahren mit frühen Experimenten gelegt, einschließlich der In-vitro-Fertilisation (IVF) bei Tieren (Bavister, 2002). 1978 wurde Louise Brown, das erste „Retortenbaby“, geboren und markierte einen Durchbruch in der menschlichen IVF. In den 1980er Jahren wurde der Gameten-Intrafallopian-Transfer (GIFT) entwickelt, eine Alternative zur IVF, bei der Ei- und Samenzellen direkt in den Eileiter platziert werden. Die intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI), eine Technik zur Injektion eines einzelnen Spermiums in eine Eizelle, wurde 1992 eingeführt und revolutionierte die Behandlung männlicher Unfruchtbarkeit. Die Präimplantationsdiagnostik (PGD) wurde in den späten 1990er Jahren verfügbar und ermöglichte das Screening von Embryonen auf genetische Störungen vor der Implantation. Das 21. Jahrhundert brachte bedeutende Fortschritte in der Eizellkryokonservierung und erweiterte die Möglichkeiten zur Fertilitätserhaltung und Familienplanung.
Die neuen und vielfältigen Behandlungen, die durch den technologischen Fortschritt ermöglicht wurden, erweitern die menschlichen Möglichkeiten auf verschiedene Weise und werfen neue Fragen für Individuen auf, wie: Wird die Wissenschaft uns zu Göttern machen? Ziel dieser Eingriffe ist stets das Eingreifen in die natürliche Fortpflanzung. Die verfügbaren Methoden reichen von der Spermatogenese und Ovulationsstimulation bis hin zum Klonen von Menschen. Diese Möglichkeiten sind nicht nur aus medizinischer und technischer Perspektive vielfältig, sondern auch in den Fragen, die sie aufwerfen. Beispielsweise unterscheiden sich die Rolle und das Auftreten eines dritten (oder vierten) Teilnehmers sowie das Verhältnis zu Samen- und Eizellen.
Im Falle von Medikamenten oder chirurgischen Eingriffen greift ein Dritter, der Arzt, ein, um die Befruchtung zu ermöglichen, führt sie jedoch nicht selbst durch. So bleibt der Aspekt der intimen Beziehung erhalten. Bei der Spermieninjektion hingegen führt der Arzt mechanisch die Samen in die Gebärmutter ein, und das Sperma wird zu einem Laborprodukt. Bei der künstlichen Befruchtung durch einen Spender tritt ein neuer Teilnehmer auf: der unbekannte Spender. Dies könnte Fragen über die Bedeutung der Familie oder die moralische Tendenz der Gesellschaft aufwerfen. Bei der Leihmutterschaft ist eine vierte Person beteiligt – eine weitere Frau, deren Rolle komplexer ist als die eines männlichen Samenspenders. Darüber hinaus können bei der Leihmutterschaft Spermien und Eizellen von den biologischen Eltern stammen oder von Spendern kommen. Dies macht das Verständnis des gesamten Prozesses komplizierter: Wessen Kind wird geboren?
Die obigen Überlegungen haben Fragen über die Rollen der dritten und vierten Beteiligten aufgeworfen sowie das Verhältnis zu Samen- und Eizellen. Allerdings können die verschiedenen Techniken der Reproduktionsintervention auch hinsichtlich ihrer Beziehung zur Zeit oder des Entstehens der Möglichkeit der genetischen Manipulation betrachtet werden. Kryokonservierung ermöglicht beispielsweise die Möglichkeit, dass jemand posthum ein Kind gebären kann, und im Falle der IVF kommt die Option der genetischen Manipulation ins Spiel. Wir können auch die Auswirkungen von lang anhaltender Unfruchtbarkeit auf Beziehungen untersuchen sowie die unbekannten Auswirkungen von wiederholter hormoneller Ovarialstimulation oder das Risiko von fetalen chromosomalen Anomalien und die möglichen Herausforderungen der Elternschaft im fortgeschrittenen Alter.
Folien 7-10: Wie stimmen Genderfragen mit den Möglichkeiten neuer Reproduktionstechnologien überein?
Die Geschlechterforschung entstand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und untersucht Themen wie Geschlechtsidentität, Geschlechterrollen und Geschlechterdiskriminierung. Ein Grundsatz der Geschlechterforschung besagt, dass Geschlechtsidentität nicht nur auf biologischem Geschlecht beruht, sondern auch von sozialen und kulturellen Faktoren beeinflusst wird.
Robert Stoller, von dem das Konzept des Geschlechts stammt, diskutierte in seinem Werk „Sex and Gender“ (1968) das Konzept der Geschlechtsidentität. Er beschreibt es als ein „fundamentales Zugehörigkeitsgefühl zu einem Geschlecht. [Die Kerngeschlechtsidentität wird] durch die Beziehung des Säuglings zu seinen Eltern, durch die Wahrnehmung der äußeren Genitalien des Kindes und durch eine biologische Kraft, die von den biologischen Variablen des Geschlechts ausgeht, gebildet“ (Stoller, 1984, 29).
Mit anderen Worten folgt die Geschlechtsidentität nicht zwangsläufig dem biologischen Geschlecht, ebenso wenig wie gesellschaftliche Rollen (z. B. Elternschaft), da diese soziale Konstrukte sind.
Neue Reproduktionstechnologien wie IVF und Samenspenden ermöglichen es Individuen, Eltern zu werden, selbst wenn eine Diskrepanz zwischen biologischem Geburtsgeschlecht und Geschlechtsidentität besteht oder wenn es Herausforderungen bei biologischen Fortpflanzungsbedingungen und unkonventionellen Partnerwahlen gibt. Diese Technologien unterstützen gleichgeschlechtliche Paare, Paare mit Fruchtbarkeitsproblemen und Transgender-Personen dabei, Eltern zu werden:
- Eine Person, die mit weiblichen Fortpflanzungsorganen geboren wurde, lässt ihre Eizellen einfrieren (soziales Einfrieren) und unterzieht sich dann einer Geschlechtsangleichung, was die Entfernung der Eierstöcke und der Gebärmutter umfasst. Später, wenn sie sich für eine weibliche Partnerin entscheidet, wird ihre Eizelle mit einem Spendersamen befruchtet und der Embryo von der weiblichen Partnerin ausgetragen.
- Die Eizelle eines Mitglieds eines lesbischen Paares wird mit einem Spendersamen befruchtet, und das befruchtete Ei wird von der anderen Frau des Paares ausgetragen.
- Ein homosexuelles Paar wünscht sich ein Kind. Dies könnte mit einer gespendeten Eizelle und einer Leihmutter möglich sein.
Genderfragen in der Gesellschaft und der Fortschritt neuer Reproduktionstechnologien entwickeln sich parallel. Beide tragen dazu bei, dass die Gesellschaft offener und akzeptierender gegenüber der geschlechtlichen Vielfalt wird, und sie tragen auch zur Transformation von Konzepten wie der Vorstellung von Familie bei.
Folien 11-19: Wie können individuelle und familiäre Lebenswege sich in Bezug auf Reproduktionstechnologien verändern?
Ein Konzept der „biologischen Uhr“ beschreibt den Konflikt zwischen der biologischen Zeitlichkeit des Fruchtbarkeitsrückgangs und der sozialen Zeitlichkeit der Familienplanung. Während der biologische Zeitrahmen die Möglichkeit der Schwangerschaft einer Frau ab dem Alter von 20 Jahren kontinuierlich verringert, deuten gesellschaftliche Veränderungen auf eine immer später eintretende Elternschaft hin. Während der biologische Rahmen (der Fähigkeiten) konstant bleibt, wird das Konzept der biologischen Uhr deutlicher definiert. Biotechnologische Fortschritte hingegen erweitern die Fruchtbarkeit. Es stellt sich die Frage, „was passiert, wenn die Biologie, die das Kernstück der zeitlichen Regulierung des reproduktiven Lebens bildet, instabil wird?“ (Bühler, 2022).
Wenn einer der stabilen Rahmen, der die zeitlichen Grenzen der Geburt reguliert, nicht mehr existiert und die biotechnologische Zeitsteuerung übernimmt, werden grundlegende moralische Entscheidungen Frauen, Paaren und Ärzten übertragen. Diese Entscheidungen haben zuvor nicht existiert, und es gibt keinen umfassenden gesellschaftlichen Konsens darüber. In bestimmten Kontexten kann die gesetzliche Regulierung zwar bei der Entscheidungsfindung helfen, aber sie kann die individuellen und moralphilosophischen Dilemmata nicht beseitigen; allenfalls kann sie die Entscheidungsbelastung in bestimmten Fällen lindern.
Es entstehen Fragen, die direkt die Lebensqualität und den Lebensweg betreffen, aus medizinischer, psychologischer und sozialer Perspektive. Neben möglichen gesundheitlichen Herausforderungen ist es entscheidend, die Herausforderungen in der Mutter-Kind-Beziehung aufgrund von Altersunterschieden und die gesellschaftlichen Implikationen einer späten Elternschaft zu berücksichtigen. Ältere Frauen haben ein höheres Risiko für Bluthochdruck und Schwangerschaftskomplikationen, Diabetes, chromosomale Anomalien (wie das Down-Syndrom) und eine höhere Wahrscheinlichkeit für einen Kaiserschnitt. Auch gibt es ein erhöhtes Risiko für Schwangerschaftskomplikationen bei älteren Müttern, einschließlich Problemen wie Frühgeburten oder Fehlgeburten. Aus der Perspektive der Mutter-Kind-Beziehung entstehen Fragen zu Generationsunterschieden, Unterschieden in Energie und Aktivität zwischen Mutter und Kind und möglichen früheren gesundheitlichen Verschlechterungen.
Diese Fragen haben keine vorhersehbaren Antworten. Die gesetzlichen Bestimmungen, die von Land zu Land unterschiedlich sind, bieten einen gewissen Rahmen, aber in der Realität konfrontieren sie diejenigen, die ein Kind wünschen, und die Ärzte oft mit Entscheidungen, die über deren Kompetenz hinausgehen.
Folien 20-24: Wie taucht das Thema ART in multikulturellen Gesellschaften auf?
Im vorherigen Teil des Vortrags haben wir diskutiert, wie technologische Fortschritte immer wieder neue Fragen zu Geburt, menschlichem Leben, Zeit, der Interpretation von Generationen und dem Verständnis von Geschlechtern aufwerfen. In Abwesenheit eines natürlichen Rahmens müssen Menschen einen solchen schaffen, und unsere Perspektiven auf diese Fragen sind stark von unseren spirituellen, kulturellen, religiösen, erkenntnistheoretischen und philosophischen Überzeugungen beeinflusst.
Durch die Globalisierung werden diese vielfältigen Wertesysteme für verschiedene Menschen sichtbar, und deren Bräuche und Wünsche können leicht von anderen und sich selbst in Frage gestellt werden. In multikulturellen Gesellschaften ist es besonders wichtig, dass Ärzte darauf vorbereitet sind, Wertesysteme mit unterschiedlichen Neigungen, Weltanschauungen oder scheinbar ambivalenten Werten zu begegnen. Ein bedeutender Trend in europäischen Städten in den letzten Jahrzehnten ist der wachsende Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund, insbesondere im Kontext zunehmender Globalisierung.
Das Bewusstsein für kulturelle Unterschiede ist entscheidend, da sowohl die Über- als auch die Unterexotisierung problematisch sein können.
Referenzen:
American College of Obstetricians and Gynecologists Committee on Gynecologic Practice and Practice Committee. Female age-related fertility decline. Committee Opinion No. 589. Fertil Steril. 2014 Mar;101(3):633-4.
Allan, S., Balaban, B., Banker, M., Buster, J., Horton, M., Miller, K., ... & Zegers-Hochschild, F. (2019). International federation of fertility societies' surveillance (IFFS) 2019: Global trends in reproductive policy and practice. Global Reproductive Health, 1-138
Bühler, N. The ‘good’ of extending fertility: ontology and moral reasoning in a biotemporal regime of reproduction. HPLS 44, 21 (2022).
https://doi.org/10.1007/s40656-022-00496-wFranklin,Sarah. 2013. Conception through a looking glass: the paradox of IVF, Reproductive BioMedicine Online, Volume 27, Issue 6, 2013, Pages 747-755, ISSN 1472-6483,
https://doi.org/10.1016/j.rbmo.2013.08.010.
Stoller, R. J. (1984). Sex and gender: The development of masculinity and femininity (Reprint). Karnac.
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